Die Frage geht an den Kranken: „Fehlt Ihnen etwas?“, „Was fehlt Ihnen denn?“ Millionenfach vernommen, in Arztpraxen, in Kinderzimmern, in Büros und Schulen. Die Krankheit erscheint als ein Mangel, ein Mangel an Gesundheit, die dem Kranken abhanden gekommen ist. Tatsächlich sind viele Krankheiten jedoch durch ein Zuviel, nicht durch einen Mangel gekennzeichnet: ein Zuviel an Viren und Bakterien, ein Zuviel in Gestalt von Geschwüren und Tumoren, ein Zuviel auch in der Gedankenwelt, in der plötzlich ein zweites Ich auftaucht, jemand einen zwingt die eigenen Atemzüge zu zählen oder längst verstorbene Verwandte wieder auferstehen. „Was fehlt Ihnen denn?“ – die korrekte Antwort müsste folglich lauten: „Nichts!“

Nun kann diese Beobachtung als bloße Wortklauberei, als eine sprachliche Spitzfindigkeit abgetan werden, die nicht weiter von Bedeutung ist. Schließlich verstehen die Menschen einander, der Kranke weiß, was gemeint ist und wird entsprechend antworten. Und dennoch weist die Frage über diese rein pragmatische Dimension hinaus, sie weist auf die Gesellschaft, in der sie heimisch ist – Gesundheit ist zuallererst ein sozialer Begriff. „Was fehlt Ihnen denn?“ ist die korrekte Frage in einer Gesellschaft, in der Gesundheit vor allem die Möglichkeit – letztlich die Verpflichtung – zur Erwerbstätigkeit bedeutet. Die richtige Antwort lautet folglich: „Mein Lohn!“; das ist es, was hier fehlt. Und in vielen Teilen der Erde ist die Antwort damit noch nicht vollständig, sie ist weitaus ergiebiger: „Meine Behausung! – sie ist mir genommen worden; etwas Vernünftiges zu essen! – es ist kein Geld mehr da; meine Frau! – sie ist mit dem Nachbarn durchgebrannt.“

Der Arzt sitzt in dieser Konstellation in einem Boot mit dem Unternehmer, vielleicht ohne es zu wollen, aber er tut es. Und hierbei ist er nicht einmal der Kapitän, sondern vielmehr der Bordingenieur, er hält die Maschine am Laufen, indem er die Erwerbsfähigkeit der Kranken wiederherstellt. In einer solchen Gesellschaft braucht es nicht lange, bis der Wunsch nach Optimierung zu keimen beginnt: Der eigene Körper kann noch verbessert werden, der Makel – und sei es nur der empfundene – vielleicht von vornherein ausgemerzt werden, das Altern zumindest zeitweise aufgehalten, wenn nicht gar ganz gestoppt werden. Die Wunschvorstellungen greifen weit aus: Das Leben wird als ein ewiges und unbeschwertes imaginiert, nicht mehr als ein vergängliches mit Heranreifen, Blüte und Verfall. Der Arzt stellt seine Frage nun mit einiger Berechtigung, ist er doch längst Dienstleister geworden. Nicht mehr mit dem Zuviel der Krankheit, sondern mit den herbeiphantasierten Mängeln der kapitalistischen Gesellschaft sieht er sich konfrontiert. Der Kranke ist dem Kunden gewichen, die Wiederherstellung der Gesundheit der Optimierung des Lebens. Auf die Frage „Was fehlt Ihnen denn?“ muss nun konsequenterweise diese folgen: „Darf’s noch ein bisschen mehr sein?“

Natürlich, die Optimierung im Kleinen, darunter kann sich noch jeder etwas vorstellen, etwa in Gestalt von Schönheitsoperationen, aber ewiges Leben, Unsterblichkeit? Wer wird schon so weit vorgreifen, ohne zu den Märchenerzählern gezählt werden zu müssen? Peter Thiel zum Beispiel, der mit PayPal einst Millionär, durch seine frühe Investition bei Facebook schließlich Milliardär wurde. Thiel pumpte reichlich Geld in die Firma Halcyon Molecular, dessen Gründer sich auf die Fahnen geschrieben hatte, die Menschheit vom Altern zu heilen.

Der Tod erscheint hier auf der Ebene eines lösbaren Problems, als Beleidigung und zugleich als Herausforderung für die menschliche Intelligenz. Jenes „Darf’s noch ein bisschen mehr sein?“ soll konkret werden: zehn Jahre, fünfzig Jahre, hundert Jahre, bis irgendwann die Unsterblichkeit erreicht werden kann. Fern jeder Gelassenheit bedrückt die eigene Endlichkeit Menschen wie Thiel, sie überzieht ihr Leben mit einem Schleier, der den Antrieb ausbremst, die Motivation drosselt. Bei den Ambitionen, den Tod zu überlisten, fehlt auch die Geste des Wohltäters nicht: die Unsterblichkeit würde – so Thiel – zu einem besseren Verhalten der Menschen untereinander führen, stünde doch stets in Aussicht sich in der Ewigkeit irgendwann einmal wiederzubegegnen.

So lautet die Theorie eines Zusammenlebens von Gottesexistenzen, in der Praxis würde es wohl zu Mord und Totschlag kommen: „An den sozialen Nicht-Sinn einer sich unaufhörlich überfüllenden Erde braucht gar nicht erst gedacht werden: kein Auftritt ohne allen Abgang, keine mögliche Gesellschaft ohne geräumigen Friedhof.“ (Bloch, Ernst, Das Prinzip Hoffnung, in: Ernst Bloch Gesamtausgabe, Bd. 5, Frankfurt am Main 1959, S. 541.) In einer Welt der Unsterblichen, wie sie Thiel imaginiert, würde sich der Friedhof fortan durch Gewalt füllen. Als Fondsmanager möchte er zuerst Geld verdienen. Liberal bis ins Mark, tatsächlich fast schon einem Extremismus anhängend, in dem jeder Einfluss der Politik (auch der demokratisch legitimierten) als störend abgelehnt wird, setzt Thiel alles auf die Karte eines von Technologien befeuerten Kapitalismus: „Wir befinden uns in einem Rennen auf Leben und Tod zwischen Politik und Technologie. (…) Anders als in der Welt der Politik können in der Welt der Technologie Entscheidungen von Individuen noch von herausragender Bedeutung sein. Das Schicksal unserer Welt hängt vielleicht vom Engagement eines einzelnen Menschen ab, der den Mechanismus der Freiheit erschafft oder verbreitet, um die Welt zu einem sicheren Ort für den Kapitalismus zu machen.“ (übersetzt: Thiel, Peter, The Education of a Libertarian, auf: Cato-Unbound – A Journal of Debate, 13.04.2009.)

Das Übertragen des Schicksals aller in die Hände eines Einzelnen (worin unverkennbar totalitäre, wenn nicht gar faschistische Züge durchscheinen) geht Hand in Hand mit der Ablehnung jeder Form von Politik, deren notwendiger und richtiger Langsamkeit allein Verachtung entgegengebracht wird. Diese Trägheit und Unflexibilität der Politik ist jedoch unumgänglich, sofern sie eine demokratische bleiben möchte. Das Einbeziehen der Gemeinschaft, das Anhören verschiedener Standpunkte benötigt Zeit. Es ist die Abneigung gegenüber der namensgebenden Polis, gegenüber der Gemeinschaft, auf der Thiels Träume vom ewigen Leben gedeihen. Wenn diese einmal Realität werden sollten, wird es die Unsterblichkeit nur für wenige geben, andere Technologien werden nicht gleich schnell mitgewachsen sein. Die Ressourcen werden von den neuen ‚Göttern‘ rücksichtslos ausgebeutet werden, sodass es andernorts zu Gewalt, Hunger, Flucht und Vertreibung kommen wird. Doch jemanden wie Peter Thiel, Multi-Milliardär und hauptberuflich Visionär, ficht so etwas nicht an, in seiner Welt ist der Mensch eine Insel, kann rücksichtslos schalten und walten, ohne auf andere Acht geben zu müssen.

Dass Thiel derartige Zustände vielleicht im Stillen selber befürchtet, legt seine Unterstützung für ein anderes Projekt nahe. Thiel investiert auch in Unternehmen, die sich die Besiedlung der Ozeane auf schwimmenden Inseln zum Ziel gesetzt haben. Hier können sich die unsterblichen Reichen dann verschanzen: Blankenese auf der Nordsee, Beverly Hills im Pazifik, fern vom Pöbel, fern vom Elend, das man selber geschaffen hat.

Die Gegenrede wird mit Fortschrittsfeindlichkeit einsetzen, mit dem Vorwurf, dass das Ausbremsen der großen Ideen, der Visionen des Individuums, jedes Vorankommen unmöglich macht. Doch dem liegt ein Missverständnis zugrunde: Die großen Denker, die gerne auch Genies oder Visionäre gerufen werden sollen, haben keine Luftschlösser gebaut, sie haben das hervorgebracht, mit dem die Geschichte ohnehin gerade ‚schwanger ging‘. Zu erkennen, wo derartige ‚Geburtshilfe‘ notwendig ist, ist kaum möglich, ohne die Gemeinschaft im Blick zu haben, von der sich Thiel so energisch abwendet. In seinem Fall soll nur eine Aufgabe gefunden werden, die dem Ego angemessen ist und zugleich den Kontostand weiter anwachsen lässt.

Vielleicht ist diese Hybris schon pathologisch, um einmal eine Laiendiagnose zu wagen. Vielleicht zeigt sich hier ein Zuviel im psychischen Bereich, nach dem die Ärzte immer weniger fragen, weil sie so sehr mit dem „Was fehlt Ihnen denn?“, mit dem „Was kann ich für sie tun?“ und dem „Darf’s noch ein bisschen mehr sein?“ beschäftigt sind. Vielleicht ist dies ein Symptom einer kranken Gesellschaft, die Gesundheit nicht mehr nur mit Erwerbsfähigkeit kurzschließt, sondern in vorauseilendem Gehorsam den eigenen Körper für die Erwerbstätigkeit optimieren möchte. Dass dieses Verständnis nicht auf einem Naturgesetz basiert, zeigt der Blick in die Geschichte. Im antiken Griechenland etwa bedeutete Gesundheit zuvorderst Genussfähigkeit – ein schönes Ziel für die anstehende Therapie.

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