Die Nachsicht der westeuropäischen Linken mit Russland hat eine Geschichte, die bis zur Oktoberrevolution von 1917 zurückreicht. Auf diesem Ereignis bauten Sozialisten der 20er und 30er Jahre ihr Sehnsuchtsland, das in den Vorstellungen umso stärker gedieh, je mehr der Faschismus im eigenen Land um sich griff. Alles, was einen in der Heimat umgab, war fremd. Das Eigene lag in der Ferne, in der Wahlheimat, die man nur vom Hörensagen kannte. Bei manch einem wucherte die Sehnsucht zu einem religionsgleichen Glauben heran. Die Erlösung wartete im Osten, das Heilsversprechen war ein politisches und wurzelte in Russland: ex oriente lux.

Die Strahlkraft des größten Experiments der Menschheitsgeschichte, des „Land[es] des großen Aufbaus“ (Romain Rolland,  zitiert nach: Sinkó, Ervin, Roman eines Romans. Moskauer Tagebuch 1935-1937, Berlin 1990, S. 21.), ließ viele die Warnsignale übersehen oder – schlimmer noch – diese als von äußeren Kräften lancierte Propaganda identifizieren. Manch einer, der Russland besuchte, kehrte ‚genesen‘ heim, hatte erkannt (oder doch zumindest geahnt), dass sich das sozialistische Experimentierfeld längst in ein Massengrab verwandelt hatte (etwa André Gide, Joachim Schumacher, Joseph Roth). Andere hingegen wurden zu Advokaten des Teufels und folgten diesem im ewigen Verschieben der Gerechtigkeit auf den morgigen Tag – bis dahin noch musste verfolgt, geknechtet und gemordet werden.

Nun taugt Russland – mit wachem Blick besehen – gegenwärtig genauso wenig als Elysion linker Politik wie in den 20er und 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Das Land ist ein eigenartiger Hybrid zwischen Oligarchie und Kleptokratie, dem jede Art von Sozialismus – und sei es nur als oberflächlicher Anstrich – abhanden gekommen ist. Mit den äußeren Reizen mag mittlerweile zwar die Sehnsucht der Linken verschwunden sein, nicht jedoch ihre Fähigkeit über den desolaten Zustand im Innern des Landes hinwegzusehen, der einige Parallelen zur Sowjetunion aufweist: längst macht es den Eindruck, dass die Straftaten wieder zu den bereits ausformulierten Urteilen konstruiert werden; die Paranoia vor dem Feind in den eigenen Reihen, der die faulige Einheit zerschlagen will, wird geschürt; für hartnäckige Oppositionelle und kritische Journalisten geht es seit Jahren bereits um das eigene Überleben; Minderheiten werden nicht geschützt, sondern verfolgt.

Erst vor diesem Hintergrund wird die abermalige Abstraktionsleistung der westeuropäischen Linken erkennbar. Dass Russland bereits am demokratischen Einmaleins kläglich scheitert, wird großzügig übergangen. Bei Putins Expansionsbestrebungen folgt man gehorsam dem Sprachgebrauch des Kremls: Randerscheinungen werden isoliert und mit dem Ganzen identifiziert, sodass man im Fall der Ukraine anstatt eines Volksaufstandes schließlich einzig und allein einen Putsch erkennt, anstatt eines von Moskau gewollten Bürgerkrieges die Selbstverteidigung russischer Minderheiten gegen vom Westen unterstützte Nationalisten und Faschisten. Letzteres bringt insbesondere den Resonanzkörper des deutschen Durchschnittsbewusstseins zum Klingen, waren doch die eigenen Großväter als Nationalisten und Faschisten in eben diesen Regionen unterwegs. Die Rhetorik Russlands ist gewiss kein Zufall, sie soll die Menschen an eine Kontinuität glauben lassen (die es – zumindest im von Moskau propagierten Ausmaß –  nicht gibt): Vielleicht wiederholt sich Geschichte ja doch? Vielleicht gibt es doch eine Legitimation für ein russisches Eingreifen?

So folgt die Linke einem historischen Reflex, der seine Kinderkrankheit – die Blindheit gegenüber der Realität – bis heute nicht überwunden hat: das Gute dem Osten, das Schlechte dem Westen. Sie ist verfangen in eben jenem Schwarz-Weiß-Denken, das sie anderen Parteien oftmals (zu Recht) zum Vorwurf macht. Die Hauptsache kann nicht sein, dass die Uhren in Russland irgendwie anders ticken als im eigenen Land oder in den USA. Es braucht die Einsicht, dass sie – wenngleich auf andere Weise – ebenso Falsches anzeigen wie an diesen Orten. In Bereichen, die grundlegende demokratische Rechte betreffen, sollten keine Zugeständnisse aufgrund eines verkürzten Freund-Feind-Denkens gemacht werden – auch wenn dies bedeutet, dass man als Demokrat einsam zurückbleibt. Die Alternative zum vielfachen westlichen Bruch mit Demokratie und Menschenrechten kann nicht der russische sein.

Vielleicht setzt sich diese Einsicht doch noch durch, dies zumindest legt ein letzter Blick in die Vergangenheit nahe. Viele Jünger der Sowjetunion wachten erst in dem Moment auf, da Stalin mit Hitler paktierte, um Osteuropa in zwei Teile zerreißen zu können. Die Analogie zur Gegenwart ist möglich – gleichwohl natürlich die Qualität seinerzeit eine ganz andere war. Putin kann nicht mit Stalin, die Parteien der europäischen Rechten (etwa der Front National, der Millionenkredite aus Russland bezieht) nicht mit der NSDAP gleichgesetzt werden und doch sollten die noch zarten Bande zwischen den beiden Lagern den Linken Zeichen genug sein. Eine derartige Allianz hat das Potential stärker zu werden, denn nicht in Parteien wie der griechischen Syriza oder der spanischen Podemos, sondern in kraftmeierischem Nationalismus, der mit lauten Parolen seine vielen Schwächen überdeckt, findet Putins Russland seine wahre geistige Brüderschaft.

Bedurfte es hierfür noch eines letzten Nachweises, so lieferte diesen ein Treffen des „Russischen Konservativen Forums“ von Mitte März 2015. Insgesamt 150 Politiker rechter Parteien, unter ihnen auch Vetreter der deutschen NPD, kamen auf Einladung des Vize-Ministerpräsidenten Dimitri Rogosin zusammen, um ihre Gemeinsamkeiten mit der russischen Politik auszuloten. Die Zusammenkunft fand ausgerechnet in St. Petersburg statt, dem Ausgangspunkt der anvisierten ‚Weltrevolution‘ von 1917. Hing seinerzeit die Sehnsucht der europäischen Linken an diesem Ort, so kann dieser ihr gegenwärtig – im Angesicht von Hitler-Verehrern und Antisemiten – eigentlich nur mehr als Friedhof für letzte Illusionen über Russland dienen.

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