„Ich will nicht die Schrotflinte. Ich will den Sniper“ – kein General spricht hier über seine Truppen, sondern der Unternehmer Samy Liechti über Werbemöglichkeiten in Zeiten von Big Data. Das Martialische der Wortwahl kommt nicht von ungefähr: Der Kunde ist nicht zuerst König, sondern der gesättigte Feind des Wirtschaftswachstums, dem Dinge angedreht werden müssen, die er eigentlich nicht benötigt. Stets muss er im Visier gehalten werden, sodass im richtigen Moment zum zielgenauen Abschuss angesetzt werden kann. Dies ist Aufgabe der Werbung, die in der neuen Datenfülle ihr Himmelreich entdeckt hat. Noch ist sie kaum durch dessen Pforten getreten, da ist die grundsätzliche Entwicklung bereits absehbar: Die kollektive Konsumentenansprache weicht der individuellen.

Es ist ein grundsätzliches Dilemma für die Wirtschaft: Im Angesicht eines gesättigten Marktes verliert ein Großteil der angebotenen Produkte seinen Gebrauchswert. Die fünfte Jeans im Schrank ist genauso überflüssig wie das dritte Auto oder das neue Mobiltelefon mit geringfügig verbesserter Kamera und zusätzlichen Applikationen, die ohnehin nicht genutzt werden. Um die Menschen dennoch zum Kauf zu animieren, steht für die Unternehmer fortan die Ästhetisierung der Ware, nicht mehr ihre Nützlichkeit, im Vordergrund: Es wird primär für den Verkauf, nicht für den Gebrauch produziert. Die durch die Oberfläche des Produkts suggerierten sowie vom Verkäufer und von der Werbung propagierten Versprechen werden von dem Philosophen Wolfgang Fritz Haug über den Begriff der Warenästhetik erfasst. Dieser umschließt all jene Veränderungen, die das Wesentliche des Produkts nicht anrühren, stattdessen in der Variierung seines Scheins bestehen. Hierfür bieten sich zwei Ansatzpunkte: das Äußere der Ware sowie die Emotionen und Vorstellungen, die es im Stande ist auszulösen.

Letztere positiv zu gestalten, fällt in den Aufgabenbereich der Werbung. Es gilt den Konsumenten so zu manipulieren, dass die Einsicht in die fehlende Nützlichkeit des Produktes ausbleibt. Ein eindrucksvolles Beispiel für dieses Vorgehen liefert in den 1970er Jahren eine Gruppe von Herstellerfirmen für Herrenunterwäsche, die behauptete Unterwäsche speziell für den täglichen Wechsel produziert zu haben. In einer im SPIEGEL geschalteten, ganzseitigen Anzeige sind neun Männer an einer Biertheke abgebildet. „Sieben davon tragen Masken vor dem Gesicht. Die Masken stellen Schweinsköpfe dar. Zwei der Männer zeigen sympathische menschliche Gesichter. Die Legende besagt: ‚Nur 10 Prozent unserer Männer wechseln täglich ihre Unterwäsche.‘ Der Leser sollte darauf kommen: Die andern sind Schweine. Wenn herauskommt, dass jemand seine Unterwäsche nicht täglich wechselt, dann soll er sein – menschliches – Gesicht verlieren“ (Haug, Wolfgang Fritz, Kritik der Warenästhetik. Gefolgt von Warenästhetik im High-Tech-Kapitalismus, Frankfurt am Main 2009, S. 127).

Durch die Bezugnahme auf den Körper und mit diesem verbundene Scham- und Ekelgrenzen ist mit der Anzeige neben dem Einwirken auf die Selbstwahrnehmung der Menschen zugleich ein Widerspruch gelöst worden, mit dem sich jede Werbung in Zeitungen und im Fernsehen auseinanderzusetzen hat: Diese muss so angelegt sein, dass eine möglichst große Anzahl von potentiellen Käufern sich angesprochen fühlt, während sie (in der Regel) zugleich in ihrer Realisierung immer nur auf einen einzelnen Menschen einwirken kann, also immer auch  eine persönliche Ansprache sein muss. Im vorgestellten Beispiel werden beide Aspekte bedient: Die Männer an der Theke adressieren repräsentativ ihr gesamtes Geschlecht, während der einzelne Betrachter der Anzeige gar nicht umhinkommt, sich entweder bei den Menschen oder bei den Schweinen einzuordnen. Zusätzlich schafft es die Werbung einen weiteren Widerspruch aufzulösen, der in den Bedürfnisstrukturen des Menschen angelegt ist: Auf der einen Seite steht der Wille in einer Gemeinschaft aufzugehen, während es auf der anderen Seite stets auch den Willen gibt, über Einzigartigkeiten aus dieser Gemeinschaft hervorzustechen. Übertragen auf das Beispiel bedeutet dies, dass der Mann, der sich mit ausreichend Unterwäsche eindeckt und diese täglich wechselt und wäscht, sich in die Gemeinschaft der ‚Menschen‘ eingliedern kann, während er sich zugleich von all jenen abgrenzt, die noch zu den Schweinen gezählt werden müssen. Wohlige Zusammengehörigkeit und das Hochgefühl der Einzigartigkeit können hier paradoxerweise Hand in Hand gehen, da die Gemeinschaft eine ist, die sich schweigend formiert.

Wenngleich der Konflikt zwischen einer großen Reichweite und einer möglichst individuellen Ansprache im Fall der Unterwäschewerbung äußerst geschickt gelöst ist, wurde dennoch seinerzeit noch mit der Schrotflinte geschossen. Da die Werbung stets vom einzelnen Menschen, je unterschiedlich, aufgenommen wird, ist es nur hinderlich bei der Konzeption einen Weg finden zu müssen, der – wie eine Schablone – auf möglichst viele Personen zugeschnitten ist. Eine Lösung für dieses Problem liefern die Unmengen an personenbezogenen Daten, die jeder Nutzer im Internet hinterlässt. Sei es in sozialen Netzwerken, beim digitalen Einkauf oder im Austausch über E-Mails – die Menschen fügen sich freiwillig der Datensammelwut der Wirtschaft. Diese belobigt die Preisgabe mit Rabatten, kleinen Geschenken und Dienstleistungen. Der Unterdrücker von morgen erscheint heute im Gewand des Wohltäters, der fortan die Werbung direkt auf den Käufer zuschneiden kann, im Idealfall gar schon die Bedürfnisse des Konsumenten kennt, bevor dieser sich deren Existenz überhaupt bewusst ist.

In einer Art Metawerbung, die der Wirtschaft wie eine Verheißung, Datenschützern hingegen wie eine sich realisierende Horrorvision anmutet, pries IBM vor einigen Jahren unter dem Motto „Machen wir den Planeten ein bisschen smarter“ in einem Werbefilm die neuen Möglichkeiten: Absolut identisch gekleidete Angler sitzen an einem Fluss. Ein Ausflugsschiff fährt vorbei, auf dem ein dutzend ebenfalls identisch gekleidete Personen stehen, ehe im Vordergrund eine Gruppe Joggerinnen entlangläuft, wiederum alle in identischer Kleidung. Eine Frauenstimme ertönt: „Früher haben Unternehmen uns als Zielgruppe gesehen. Sie konnten die Unterschiede nicht erkennen. Heute analysieren Händler soziale Netze, Bewertungen und Kaufverhalten, um ihre Kunden besser zu verstehen. So steigern manche Unternehmen ihren Online-Erlös um bis zu 50 Prozent, weil sie jedem Kunden ein ganz persönliches Einkaufserlebnis bieten.“ Während des kurzen Monologs streifen sich die Mitglieder einer letzten Gruppe uniformiert Gekleideter, zehn Geschäftsleute, ihre Anzüge ab und offenbaren sich je individuell als Radfahrer, Bauarbeiter oder Angestellter.

Die auf das Individuum zugeschnittene Ansprache ermöglicht, jede Form der Gemeinschaft als Korrektiv zurückzudrängen und dadurch die Werbebotschaft fester zu verankern. Natürlich existieren derartige Kollektive weiterhin, die Menschen gehören immer noch zu einer Berufsgruppe oder einer Interessengemeinschaft. Doch durch den individuellen Zuschnitt der Werbung werden diese immer nur unter Vorbehalt aufgerufen oder aber sie entweichen vollends aus dem Bewusstsein der Menschen. Was zählt, ist das Individuum – womit IBM seiner Werbung den warmen Mantel aufklärerischer Rhetorik umwerfen kann: Nicht mehr die Masse, sondern der einzelne Mensch – mit seinen Nöten und Sehnsüchten – ist von Belang. Dass Wirtschaft und Werbung seit jeher gerade Anti-Aufklärung betreiben, das Individuum nicht in freier Entfaltung seiner selbst, sondern allein als manipulierbares und geknechtetes kennen, soll von diesem Mantel überdeckt werden. Nicht selbstbewusst, sondern isoliert kommt der einzelne Mensch in den Wunschvorstellungen der Wirtschaft vor.

Wenn zur Verdeutlichung dieser Entwicklung zum Beispiel der Herrenunterwäsche zurückgekehrt wird, so kann das von IBM formulierte Ziel für die Werbung der Zukunft folgendermaßen formuliert werden: Die Schweine müssen nicht mehr gemeinsam mit denen angesprochen werden, die bereits zu den Menschen zählen. Es ist bekannt, wer ein Schwein ist und dieses wird gezielt über sein Mail-Postfach oder Bannerwerbung auf Internetseiten über diesen Umstand in Kenntnis gesetzt, wobei nicht mehr auf „scheinexakte“ (Haug, Kritik der Warenästhetik, S. 127) Zahlen wie die zehn Prozent aus der Anzeige im SPIEGEL zurückgegriffen werden muss. Stattdessen können statistische Fakten für das Ausmaß des ‚Fehlverhaltens‘ geliefert werden, indem der eigene Konsum etwa mit dem Unterwäscheerwerb der Berufsgruppe oder dem des eigenen Stadtviertels kontrastiert wird. Geht es gegenwärtig vor allem um die Frage, welche Werbung bei wem geschaltet werden soll, wird mit dem Anwachsen der personalisierten Datenmengen die Art der Ansprache immer wichtiger. Der Vorteil der größeren Exaktheit besteht darin, dass stets so gerechnet werden kann, dass am unteren Ende immer eine Horde Schweine übrig bleiben wird, auch wenn diese sich bereits dem täglichen Wechsel der Unterwäsche verschrieben hat. Das Versprechen, sich zu den Menschen zählen zu dürfen, wird immer nur unter Vorbehalt erfüllt werden. Auf diese Weise wird die Warenwelt über die fortwährende Manipulation der Wahrnehmung zur Zensurinstanz für Wünsche und Bedürfnisse.

Um den qualitativen Sprung durch die Personalisierung zu verdeutlichen, lohnt ein Blick auf die geistigen Verrenkungen, in denen sich Werbeschaffende bisher üben mussten. Es spricht der Chef einer Werbeagentur über die Rollenbesetzung in herkömmlicher Bierwerbung: „Ein Mann allein gilt (…) als Alkoholiker, zwei könnten schwul wirken. Eine Gruppe ab dreien ginge. Zwei Männer und eine Frau wiederum funktioniert (…) nicht, weil der Zuschauer sich dann fragt, wer die Frau bekommt. Das alles wird in den Marketingabteilungen durchgedacht, deren größte Sorge es ist, auch nur einen einzigen Kunden zu verprellen“ (Müller, Ann-Katrin, „Wer bekommt die Frau?“ – Gespräch mit Stefan Kolle, in: Der SPIEGEL 20 (2016), S. 44). Welch ein Sorgenbrecher Big Data sein wird, wenn es in Zukunft gelingt, den alkoholkranken, den schwulen und den geselligen Biertrinker einzeln anzusprechen. Niemand muss mehr verprellt werden, alle bekommen ihre Vorlieben serviert; jedes Ressentiment kann geschürt, jedes Vorurteil gepflegt werden – Totalitarismus in Reinkultur, aber ohne Parteibuch, Militärparaden und von Apparatschiks erzwungene Uniformität. Die Menschen werden alle gleich anders sein – Hauptsache, sie konsumieren. Im Zuge dieser Entwicklung wird die Werbung aus dem öffentlichen Raum weitestgehend verschwinden, was Kritik an ihr (die auch Gehör findet) erheblich erschweren wird. Nur mehr die kleinen Unternehmen, denen es an Geld mangelt, werden weiterhin Plakate aufhängen und Werbezettel verteilen müssen. Sie nutzen die Schrotflinte, während andere mit dem Präzisionsgewehr auf Jagd gehen … im Verborgenen … auf den zielgenauen Abschuss lauernd.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert